Normale Ansicht Kleine Ansicht(PDAs) Druckerfreundliche Ansicht
 

Erzähl's Mir, Gabrielle!

by Verrath

"Hüah, Argo!"

Die goldfarbene Stute schnaubte und tänzelte, bevor sie in vollem Galopp davonjagte. Die Kriegerin auf ihrem Rücken genoß den schnellen Ritt in vollen Zügen. Der Wind fuhr ihr durch die langen dunklen Haare, sie spürte, wie die Muskeln ihres Pferdes kraftvoll unter ihr arbeiteten, und die flatternde weiße Mähne peitschte ihr Gesicht. Die Luft an diesem frühen Morgen war klar und erfrischend.

 

Das Kinderfahrrad jagte mit halsbrecherischer Geschwindigkeit den Bürgersteig entlang. Die Beine des Mädchens traten immer schneller in die Pedale, und ihr langes schwarzes Haar flatterte im Wind. Sie war recht groß für ihr Alter. Bekleidet war sie mit einem abgetragenen schwarzen Kleid, und auf dem Rücken hatte sie einen Schulranzen, unter dessen Lasche das Ende eines Spielzeugschwertes hervorragte.

"Warte doch, Sina!"

Ein kleines rotblondes Mädchen lief hinter dem Fahrrad her, so schnell sie ihre Beinchen trugen, aber der Abstand wuchs und wuchs.

Das größere Kind verdrehte die Augen und verlangsamte seine Fahrt.

"Mensch, Gabi, wann lernst du denn endlich mal, wie man Fahrrad fährt? Es macht keinen Spaß, wenn ich dauernd wegen dir anhalten muß," murrte sie, als die Kleine sie keuchend einholte.

"Ich habe dir doch gesagt, daß Fahrräder mir Angst machen," erwiderte Gabi und schob trotzig die Unterlippe vor.

"Du bist ein richtiges Baby, Gabi! Komm, setz dich hintendrauf. Argo kann uns beide tragen. Wir müssen uns beeilen!"

"Na gut," sagte das blonde Mädchen zögernd und wartete, bis ihre Freundin das Rad anhielt, bevor sie hinter ihr auf den Gepäckträger kletterte. "Aber du mußt versprechen, daß wir nicht wieder die Abkürzung durch den Steinbruch nehmen, ja?"

Sina schnaubte. "Angsthase!"

"Ja, klar. Ich habe immer noch Schrammen vom letzten Mal. Außerdem hab ich ganz schön Ärger gekriegt, weil ich mein gutes neues Kleid kaputtgemacht habe. Mama war richtig böse und ich mußte ohne Nachtisch ins Bett. Wieso kriegst du eigentlich zuhause nie solche Schwierigkeiten?"

Das Fahrrad setzte sich mit einem Ruck wieder in Bewegung. Gabi quietschte erschreckt und schlang ihre Arme um Sinas Taille in dem verzweifelten Versuch, nicht abzurutschen.

"Erstens," erklärte Sina, "habe ich nicht so feine Klamotten wie du." Ein verächtliches Schnauben ließ keinen Zweifel daran aufkommen, was sie von Gabis Kleidung hielt. "Zweitens," fuhr sie gelassen fort, "bin ich ständig in Schwierigkeiten. Ich mache nur nicht immer so ein Theater deswegen."

Sina schnalzte mit der Zunge. "Galopp, Argo," rief sie und trieb das Rad mit kräftigen Tritten in die Pedale vorwärts. Sie lachte und ließ einen Schrei los "Ayiyiyiyiyiyi!" Dann lieh sie Argo ihre Stimme und wieherte und schnaufte, als sich ihre treue Stute in Galopp setzte.

"Warum mußt du das immer machen," jammerte Gabi leise, als sie ihren wackeligen Halt wiedergefunden hatte nach dem Blitzstart.

"Was denn, willst du wieder zu spät kommen?" knurrte Sina. Sie lenkte das Fahrrad von der Straße weg in eine zerklüftete Schlucht hinein.

Mit einem Seufzer gab sich Gabi geschlagen. Sie hätte wissen können, daß sich ihre Freundin es nicht nehmen lassen würde, durch diesen furchtbaren Ort zu fahren, wenn es irgendwie möglich war.

"Ayiyiyiyi," gellte Sinas Schrei von Neuem. "Ich bin Xena, die Kriegerprinzessin. Nichts kann mich aufhalten!"

Sie drehte sich kurz zu Gabi um, und sah, wie sich ihre Freundin verzweifelt an ihr festklammerte, die Augen vor Angst fest zusammengekniffen. Sina lächelte ein kleines, wissendes Lächeln. "Wo sind wir hier? Was siehst du? Erzähl's mir, Gabrielle," sagte sie, während sie das Rad um einen großen Stein herum manövrierte.

Ein leichtes Lächeln spielte um die Lippen des jüngeren Mädchens, als sie die Worte hörte. Ihre Freundin kannte sie so gut! Diese Worte waren, es, die sie alle ihre Ängste vergessen ließen, denn sie waren der Schlüssel zu der geheimen Welt, die die beiden sich geschaffen hatten. Ihre Augen waren noch immer geschlossen, aber ihre Gesicht entspannte sich, als sie ihre Gedanken nach innen richtete.

Sie war die Bardin, Gabrielle, und sie reiste durch die Welt mit ihrer Freundin und Beschützerin Xena, der Kriegerprinzessin. Xena, die geheimnisumwitterte Heldin aus den Träumen der Mädchen, die früher einmal eine böse Kriegsherrin gewesen war, aber jetzt nur noch für das Gute kämpfte (und für eine schöne Portion Eis, wenn es die richtige Sorte war. Xena hatte eine besondere Schwäche für Straciatella).

Und während Sina, nein, Xena, das Fahrrad, oder vielmehr ihr treues Pferd Argo, mit zweifelhaftem Geschick über den geschotterten Weg lenkte, öffnete die Bardin die Augen und hauchte der Welt der beiden Leben ein.

"Es ist gefährlich hier," sagte sie. Ihre Stimme zitterte ein bißchen von den Stößen, die das Hüpfen des kleinen Fahrrades auf dem unebenen Untergrund ihren Rücken hinauf jagte. "Man sagt, daß hier eine Familie von häßlichen, menschenfressenden Riesen wohnt. Sie nehmen die Form von Felsen an, um Wanderer zu täuschen, die hier vorbeikommen. Wenn ihnen dann jemand nahe genug kommt, dann springen sie auf und überwältigen sie." Sie gab dem Felsbrocken, an dem sie gerade vorbeifuhren, einen mißtrauischen Blick, aber er machte keine Anstalten, die beiden anzugreifen.

"Was machen wir hier?"

Für einen Augenblick kam das Kind Gabi zum Vorschein, und sie zog ein Schippchen. "Wir sind hier, weil du immer denkst, wir müßten den kürzesten Weg nehmen," sagte sie trotzig. Dann aber kehrte die Bardin zurück, und sie fügte hinzu: "Und weil du dir gedacht hast, daß wir die Monster ein bißchen ärgern könnten, wenn wir schon mal hier sind."

Xena ignorierte die Rüge. "Okay. Erzähl mir, was passiert."

"Wir bahnen uns unseren Weg durch den Giganten-Graben. Alles ist ruhig, aber wir wissen, daß die schrecklichen Ungeheuer sich hier irgendwo verstecken." Gabrielles Augen begannen zu leuchten, als ihr ein Gedanke kam. "Das Gelände ist steinig und sehr gefährlich, und du mußt Argo im Schritt laufen lassen, damit sie sich nicht verletzt

Xena grummelte ein wenig, aber sie mußte sich an die Regeln halten, die die beiden für sich aufgestellt hatten. Was einmal gesagt war, konnte nicht ungeschehen gemacht werden. Widerwillig bremste sie Argo auf eine weniger lebensbedrohliche Geschwindigkeit. Als sie kurz über ihre Schulter sah, hatte Gabrielle einen sehr selbstzufriedenen Ausdruck im Gesicht.

Xena griff nach hinten und zog ihr Schwert aus ihrem Ranzen. "Also, wir reiten durch diese Schlucht. Ich habe mein Schwert in der Hand und beobachte aufmerksam die Umgebung." Es war ein bißchen schwierig, Argo mit nur einer Hand zu lenken, da die Räder immer wieder hüpften und von den größeren Schotterbrocken abrutschten, aber sie hatte vollstes Vertrauen zu ihrem treuen Reittier.

 

Alles war ruhig. Kein Laut durchdrang die Schlucht, außer dem Klappern und Kratzen von Argos Hufen auf dem steinigen Boden, als die Stute vorsichtig einen Weg durch das schwierige Gelände suchte. Xena machte den Eindruck, als würde sie überhaupt nicht mitbekommen, was um sie herum vorging, aber die Bardin wußte, daß in Wirklichkeit jeder einzelne von Xenas Sinnen aufs Äußerste angespannt war, um jede drohende Gefahr sofort zu erkennen.

Gabrielle entspannte sich ein wenig. Sie hatte blindes Vertrauen in diese Kriegerinstinkte. Der Gedanke an menschenfressende Monster, die Felsen mimten, war nicht besonders angenehm, vor allem, wenn Felsbrocken von gewaltigen Ausmaßen überall verstreut waren. Aber sie war sich sicher, daß es kein grausiger Graben-Gigant im Kampf mit der kühlen Kriegerin aufnehmen konnte.

Der Pfad schlängelte sich durch ein Tal gesäumt von zerklüfteten Klippen, und schließlich einen Geröllhaufen hinauf, auf dem ein riesiges, seltsames Gebilde stand. Es war aus einem merkwürdigen, gelben Metall und saß auf vier großen, stollenbesetzten Rädern. Eine Art Arm ragte nach vorne heraus, an dessen Ende etwas wie eine große, mechanische Greifhand befestigt war. Oben auf dem Ding befand sich eine kleine Kabine mit einem Sitz und vielen Schaltern und Hebeln, die offenbar für sehr große Wesen gemacht worden war. Von dort aus, so schien es, konnte man das metallene Monster manövrieren.

"Was ist das, Gabrielle?"

Nachdenklich rieb sich die Bardin die Nase. "Sieht aus wie eine riesige Kriegsmaschine. Bestimmt planen die Menschenfresser einen Angriff auf das Dorf! Wir müssen sie aufhalten, Xena!"

"Ja, genau, Gabrielle. Komm, wir sehen uns das mal an!"

"Aber sollten wir nicht zuerst die Dorfbewohner warnen? Du weißt doch, daß wir es eilig haben. Wenn wir sie jetzt warnen, können wir später hierher zurück kommen und uns das Ding genauer ansehen. In der Zwischenzeit könnten die Leute sich auf die Verteidigung des Dorfes vorbereiten."

"Das stimmt, aber wenn wir dieses Ding jetzt sabotieren, dann können die Riesen das Dorf gar nicht erst angreifen. Komm schon!" Sie rutschte von Argos Rücken herunter. Gabrielle hatte keine andere Wahl, als ihr zu folgen. Die Bardin befahl der Stute stehenzubleiben (aber im Ernst, sie konnte sich nicht vorstellen, warum Argo auf sie hören sollte), und lief zu ihrer Freundin, die gerade dabei war, an der Seite des gelben, metallenen Monsters heraufzuklettern.

"Bleib du unten und halte Wache," schlug Xena vor. Da sie das für eine gute Idee hielt, folgte Gabrielle der Anweisung.

"Verflixt. Es ist abgeschlossen," murmelte die Kriegerin. Die Tür zu der kleinen Kabine ließ sich keinen Millimeter bewegen. Sie rüttelte am Griff, dann versuchte sie, die Tür mit ihrem Schwert aufzuhebeln, jedoch ohne Erfolg.

Gabrielle sah sich nervös um. Bis jetzt war von den Riesen keine Spur zu sehen. "Komm da runter Xena! Wir müssen weiter. Was ist, wenn das Ding plötzlich losgeht?"

Xena hielt inne und sah die Bardin an. "Wie funktioniert das hier wohl, was meinst du? Erzähl's mir, Gabrielle."

Gabrielle sah die Konstruktion nachdenklich an. "Ich nehme an, sie rollen es an die Schutzmauer heran, und dann pflückt dieses Klauen-Dings die Menschen einfach von der Brüstung ab wenn die versuchen, ihr Dorf zu verteidigen. Wahrscheinlich werfen die Riesen sie dann in große Wagen, die sie extra dafür mitgebracht haben. Ganz schön raffiniert."

"Da hast du Recht. Wenn ich also versuche, das Klauen-Dings irgendwie unschädlich zu machen... vielleicht könnte ich was zwischen die Gelenke klemmen, damit es sich nicht mehr schließt..." Xena murmelte leise vor sich hin, während sie die Maschine untersuchte, auf der Suche nach etwas, womit sie den Apparat außer Gefecht setzen konnte.

Aus dem Augenwinkel sah Gabrielle eine Bewegung und wandte sich um. Etwas kam den Hügel hinauf auf sie zu.

"Xena! Die Riesen kommen," rief sie aus.

Xena fuhr herum. Ihre blauen Augen weiteten sich. Blitzschnell ging sie im Geiste mehrere Pläne durch und verwarf sie wieder. Sie kletterte schnell zu Gabrielle herunter.

"Es ist wohl besser, wenn sie uns hier nicht sehen," argumentierte die Kriegerin, "dann werden sie nicht merken, daß etwas nicht stimmt, bis die Kriegsmaschine versagt. Laß uns von hier verschwinden!" Sie landete leichtfüßig neben der Bardin und schwang sich auf Argos Rücken.

"Endlich bist du mal vernünftig, Kriegerprinzessin," sagte die Bardin und krabbelte hinter der Kriegerin aufs Pferd. Xena schnalzte mit der Zunge, und sie stürmten davon.

Sie steuerten auf den Ausgang der Schlucht zu und auf den Pfad, der sie ins Dorf bringen würde. Plötzlich gab es einen Ruck. Xena spuckte einen sehr schmutzigen Kraftausdruck, als sie plötzlich von Weg abkamen und den steilen Kieshügel hinunter rasten.

"Paß doch auf Xena, wir reiten in die falsche Richtung," schrie Gabrielle.

"Das weiß ich auch, verdammt nochmal! Argo ist durchgegangen, ich kann sie nicht bremsen. Die Riesen müssen sie erschreckt haben. Halt dich fest, es wird gleich ungemütlich!"

Und Gabrielle hielt sich fest, aber es ging immer schneller und schneller bergab. Sie wurde unsanft gerüttelt und hin- und hergeworfen von den panischen Sprüngen des wildgewordenen Pferdes, während Xena vergeblich versuchte, das Tier zu beruhigen.

"Aaaaaaaahhh! Vorsicht!"

"Es hat keinen Zweck Gabrielle! Wir stüüüürzen!"

Es war nur eine Frage der Zeit, bis Argo strauchelte. Die Welt wirbelte außer Kontrolle, und Bardin, Kriegerin und Pferd rollten in einem Wirrwarr aus zappelnden Gliedmaßen den Hang hinunter, gefolgt von einer riesigen Staubwolke.

Der Staub legte sich um sie herum, als sie am Fuße des Hügels liegenblieben.

 

Xena lag der Länge nach auf dem Bauch und überlegte, ob ihr lädiertes Steißbein mehr weh tat als der brennende Schmerz der aufgeschürften Haut, wo ihre Oberschenkel über den Kies gerutscht waren. Ihre Augen brannten und ihre Nase kitzelte vom Staub. Schließlich entschied sie, daß es die Beule in ihrem Ego war, die am meisten schmerzte.

Sie hob langsam den Kopf. Ihre Augen fielen auf ein paar glänzend schwarze Stiefel, die von einer dünnen Schicht Staub bedeckt waren. Langsam wanderte ihr Blick nach oben, an einem paar dunkler Hosen entlang, vorbei an einem Knüppel, der an einem Gürtel befestigt war, bis hin zu einem böse dreinschauenden, bärtigen Gesicht. Das war gar nicht gut.

Gabrielle arbeitete sich leise fluchend unter dem gefallenen Fahrrad hervor. Sie klopfte den Staub aus ihrem Kleid und zuckte vor Schmerz zusammen, als sie sich auf einen verstauchten Knöchel stellen wollte. "Xena, ich schwöre dir, wenn du das nächste Mal-" Die Worte blieben ihr im Hals stecken, als sie bemerkte, daß sie Gesellschaft hatten.

Xena stand langsam auf und griff nach ihrem Schwert, daß wie durch ein Wunder in ihrer Nähe gelandet war.

Er war fast zwei Köpfe größer als die Kriegerin, und er trug eine Polizei-Uniform.

"Was habt ihr zwei hier verloren? wie oft muß ich euch denn noch sagen, daß das hier Privatgelände ist?"

Xena richtete sich zu ihrer vollen Größe von einem Meter fünfundzwanzig auf, und sah ihn trotzig an. "Mein Name ist Xena. Ich bin eine Kriegerin. Wir sind auf eine gefährlichen Mission," sagte sie stolz.

"Also, Sina, das letzte Mal, als ich euch hier erwischt habe, habt ihr versprochen, euch hier nicht wieder sehen zu lassen, wenn ich euren Eltern nichts sage. Ich fürchte, dieses Mal muß ich strenger mit euch sein."

Die Kirchturmglocke schlug acht Uhr. Die Schule fing an, und sie waren wieder mal zu spät. Gabis Blick ging an ihrem schmutzigen, zerrissenen Kleid herunter, und dann zurück zum Wachtmeister. Sie seufzte.

Oh ja, sie waren mit Sicherheit in Schwierigkeiten. Schon wieder.

Ende. Vielleicht.

» zur nächsten Folge

Kommentare werden immer gerne genommen - Ihr erreicht mich unter verrath@gmx.de

Zurück zur Übersicht Zurück zur Homepage Zum Seitenanfang